Suddenly Wonderful. Zukunftsideen für Westberliner Großbauten der 1970er Jahre

Suddenly Wonderful. Zukunftsideen für Westberliner Großbauten der 1970er Jahre

Organizer
Berlinische Galerie
ZIP
10969
Place
Berlin
Country
Germany
From - Until
26.05.2023 - 18.09.2023
Reviewed for H-Soz-Kult by
Hanno Hochmuth, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

1977 lief erstmals „Star Wars“ in den Kinos. Bereits seit 1973 schwebte ein riesiges Raumschiff auch nach West-Berlin. Das Internationale Congress Centrum (ICC) in Charlottenburg wurde nach sechs Jahren Bauzeit im Jahr 1979 schließlich eröffnet. Bundespräsident Walter Scheel sagte bei der Einweihung, das ICC werde womöglich noch stehen, wenn die Cheops-Pyramide längst verwittert sei, und lobte den Baustoff Beton. Ralf Schüler und Ursulina Schüler-Witte hatten das gewaltige Bauwerk mit 80 Sälen entworfen, für das der Kunst- und Architekturgeschichte immer noch die Worte fehlen. Irgendwo zwischen Nachkriegs- und Postmoderne steht das ICC für einen verschwenderischen Baustil, der den Fortschrittsoptimismus und Technikglauben des Boom-Zeitalters auf die Spitze trieb, obwohl die Ölkrisen längst die Grenzen des Wachstums aufgezeigt hatten. Immer häufiger wird dieser heute aus der Zeit gefallene, international verbreitete Stil als Brutalismus bezeichnet.1 Die Bauten sind geprägt von Sichtbeton und großen Aluminiumfassaden. Zahlreiche Beispiele lassen sich hierfür auch in Berlin finden. Und so widmet sich nun eine Sonderausstellung der Berlinischen Galerie vier ausgewählten West-Berliner Großbauten.


Abb. 1: Ausstellungsansicht „Suddenly Wonderful“, Berlinische Galerie, hier mit einem Modell des ICC von 1998/99 und historischen Architekturzeichnungen. Seit 2019 steht das ICC unter Denkmalschutz.
(Foto: © Harry Schnitger)

Neben dem ICC zeigt die Ausstellung den „Bierpinsel“, ein spektakuläres Turmrestaurant in Steglitz, der ebenfalls von Schüler und Schüler-Witte entworfen wurde (Bauzeit 1972–1976), sowie das frühere Institut für Hygiene und Medizinische Mikrobiologie (1969–1974) und die ehemaligen Zentralen Tierlaboratorien der Freien Universität Berlin in Lichterfelde („Mäusebunker“, 1971–1981). Das ist ein recht übersichtliches Sample für eine recht übersichtliche Ausstellung. Dabei hätten sich leicht weitere Beispiele für den Berliner Brutalismus vorstellen lassen, die im Prolog der Ausstellung nur kurz angetippt werden (etwa das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, 1972–1974). Doch es geht der Präsentation überhaupt nicht um die Kontextualisierung der Bauten im hochsubventionierten West-Berlin der 1970er-Jahre, denn es handelt sich nicht um eine historische Ausstellung. Vielmehr geht es, wie der Untertitel verdeutlicht, vor allem um „Zukunftsideen“ für die Großbauten. Nachdem sie allesamt stillgelegt worden sind, weil sie zu groß und zu teuer waren, wird in jüngerer Zeit vehement um Nachnutzungen gerungen. Alle vier Objekte regen offenbar noch oder wieder die Phantasie an, und dies möchte die Ausstellung weiter fördern.


Abb. 2: Forschungseinrichtung für experimentelle Medizin, Charité Campus Benjamin Franklin, ehemalige Zentrale Tierlaboratorien der Freien Universität, „Mäusebunker“, Architekten Gerd & Magdalena Hänska und Kurt Schmersow, 1967–1981, Berlin-Lichterfelde
(Foto: Gunnar Klack, https://commons.wikimedia.org/wiki/User:Gunnar_Klack?uselang=de, Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Zentrale-Tierlaboratorien-Maeusebunker-Gerd-Haenska-06-2019a.jpg, CC BY-SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode; Bild von 2019)

Besonders plastisch wird das Ringen um neue Nutzungen am Beispiel des „Mäusebunkers“, der mit seinen herausstechenden Lüftungsrohren wie ein Panzerkreuzer am Teltowkanal liegt. Bis vor wenigen Jahren wurden in dem markanten Gebäude noch Tiere untersucht und gequält (der Begriff Brutalismus erhält hier noch einmal eine ganz andere Bedeutung). 2020 sollte das Gebäude eigentlich abgerissen werden, doch zahlreiche Proteste führten dazu, dass der „Mäusebunker“ jüngst unter Denkmalschutz gestellt wurde. Wie das Gebäude weitergenutzt werden kann, ist allerdings völlig offen und wird gegenwärtig in einem Modellverfahren erörtert.2 Die Film-Dokumentation „Battleship Berlin“ (2021) von Nathan Eddy, die in der multimedialen Ausstellung auf einem Bildschirm gezeigt wird, versammelt die unterschiedlichsten Ideen und Positionen zum „Mäusebunker“: vom Investor, der das Gebäude am liebsten doch abreißen würde, bis hin zu drei Architekturstudentinnen, die eine Kletterhalle daraus machen möchten. Treffend wird das Objekt an einer Stelle des Films als „brutiful“ bezeichnet.


Abb. 3: Ausstellungsansicht „Suddenly Wonderful“, Berlinische Galerie, mit historischen Fotografien ausgewählter West-Berliner Großbauten
(Foto: © Harry Schnitger)

Die Ausstellung hat zwei visuelle Ebenen, die im nüchternen Stil der Berlinischen Galerie präsentiert werden: An den hohen weißen Wänden hängen mit viel Freiraum originale historische Entwürfe, Zeichnungen und Architekturfotos der Bauten. In der Mitte des Ausstellungsraums werden dagegen Zukunftsvisionen und zeitgenössische künstlerische Interventionen gezeigt. Besonders eindrucksvoll sind die beiden liebevoll gestalteten Modelle von Tracey Snelling, die den „Mäusebunker“ und den „Bierpinsel“ zeigen. Beide Modelle sprechen buchstäblich mit den Besucher:innen, denn in den Fenstern der Gebäude laufen kleine Filmchen von Mäusen und Menschen. Zugleich verdeutlichen die Modelle die eigentümliche Schönheit der Bauten, die gerade wiederentdeckt werden und sich auf Instagram unter dem Hashtag #brutalismus großer Beliebtheit erfreuen. Der Titel der Ausstellung ist Programm: Plötzlich gelten die Großbauten der Technikmoderne wieder als bewunderns- und erhaltenswert. Nachdem die architektonische Moderne der Nachkriegszeit durch restaurierte Stuckfassaden und historisierende Schlossattrappen abgelöst worden war, schlägt das Pendel jetzt offenbar zurück in die andere Richtung.


Abb. 4: Ausstellungsansicht „Suddenly Wonderful“, Berlinische Galerie, hier mit Tracey Snellings Modell des „Bierpinsels“
(Foto: © Harry Schnitger)

Keinesfalls, so beschwört die Ausstellung, sollten die modernen Bauten einfach abgerissen werden, und dafür hat der Berliner Landeskonservator im Film „Battleship Berlin“ eine zeitgemäße Begründung parat: Denkmalschutz sei Klimaschutz, und deshalb erzwinge allein schon der Energieaufwand beim (Neu-)Bau den Erhalt der West-Berliner Großbauten. Für einige Ost-Berliner Großbauten kommt dieser Sinneswandel allerdings zu spät. Der 1976 eröffnete Palast der Republik, der in mancherlei Hinsicht das Pendant zum ICC bildete3, wurde längst abgerissen. Dasselbe gilt für das DDR-Restaurant „Ahornblatt“ (1973 fertiggestellt, 2000 abgerissen), dessen Blütenform durchaus an Entwürfe des „Bierpinsels“ erinnerte. Doch an keiner Stelle wirft die Ausstellung der Berlinischen Galerie, abgesehen von ein paar kurzen Videosequenzen, einen Blick auf Ost-Berlin, obwohl es dort ebenfalls einige spektakuläre Großbauten gab, um deren Erhalt jedoch nicht mehr gerungen werden kann.4

Anmerkungen:
1 Siehe etwa Alexandra Klei, Ausstellungsrezension zu: SOS Brutalismus – Rettet die Betonmonster!, Frankfurt am Main, 09.11.2017 – 02.04.2018, in: H-Soz-Kult, 20.01.2018, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/reex-130803 (06.08.2023).
2 Siehe z.B.: Denkmalschutz für Mäusebunker. „Es war schon fünf nach zwölf“, in: Tagesspiegel, 25.05.2023, S. B 18-19 (Interview von Christiane Peitz mit dem Berliner Landeskonservator Christoph Rauhut). Zum Jahresende ist beim JOVIS-Verlag angekündigt: Ludwig Heimbach (Hrsg.), Mäusebunker und Hygieneinstitut. Eine Berliner Versuchsanordnung, Berlin 2023.
3 Oder auch umgekehrt – in der Ausstellung wird ein Artikel der „Westfälischen Rundschau“ von 1979 zitiert: „Jetzt hat auch Berlin (West) seinen Palast.“
4 Eine deutlich breiter angelegte, Ost und West für die 1960er-Jahre gleichermaßen einbeziehende Ausstellung hat die Berlinische Galerie 2015 gezeigt. Siehe Carla Aßmann, Ausstellungsrezension zu: Radikal modern. Planen und Bauen im Berlin der 1960er-Jahre, 29.05. – 26.10.2015, Berlin, In: H-Soz-Kult, 25.07.2015, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/reex-130745 (06.08.2023). Zudem gab es 2021 die Ausstellung „Anything Goes? Berliner Architekturen der 1980er Jahre“; siehe https://berlinischegalerie.de/ausstellung/anything-goes (06.08.2023).

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